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Kunst Ulay †

Der Mann, der den „Armen Poeten“ stahl

+honorarpflichtig+++ Prod DB © Show Of Force - Dakota Group / DR MARINA ABRAMOVIC: THE ARTIST IS PRESENT documentaire de Matthew Akers et Jeff Dupre 2012 USA avec Ulay et Marina Abramovic +honorarpflichtig+++ Prod DB © Show Of Force - Dakota Group / DR MARINA ABRAMOVIC: THE ARTIST IS PRESENT documentaire de Matthew Akers et Jeff Dupre 2012 USA avec Ulay et Marina Abramovic
Performancekunst ist, wenn man sich einfach mal so anschreit: Ulay (links) und Marina Abramovic liebten und hassten sich
Quelle: mauritius images / TCD/Prod.DB /
Er machte Kunst mit dem Körper und Pfeil und Bogen: Der Kunstnomade und langjährige Gefährte von Marina Abramovic ist gestorben. Ein Nachruf auf den großen Performer Frank Uwe Laysiepen, alias Ulay.

Vor vier Jahren erst hatte er seine erste große Einzelausstellung, in Frankfurt am Main war das, in der Schirn Kunsthalle. So gut wie nichts davon, was Ulay dort zeigte, kam einem bekannt vor: großformatige Fotografien, Polaroids, ein Stück eigener Haut aus dem Unterarm, auf das „Gen.E.T.ration Ultima Ratio“ tätowiert war, Körperspuren auf Fotoemulsion. Es war, als habe man einen zugemauerten Raum entdeckt, einen Geheimgang der Kunstgeschichte. Er sei eben, scherzte Ulay einmal, der bekannteste unbekannte Künstler der Welt.

Es sind vor allem die Kollaborationen mit Marina Abramovic, die Berühmtheit erlangten. Ulay lernt die Serbin kennen, als er ihre Performancewunden versorgt. Von 1976 bis 1988 waren die beiden Lebenspartner und Kunstkomplizen, testeten mit den „Relations Works“ stetig ihre Grenzen. Wieder und wieder rannten sie nackt gegeneinander an oder saßen sich schweigend 90 Tage lang gegenüber. Vier gefährliche Minuten lang zielte Ulay mit Pfeil und Bogen auf Marina Abramovics Herz. Lange, bevor irgendjemand von Performancekunst auch nur redete, lebten sie als unstete Kunstnomaden, zogen in einem Kleinbus umher.

Doch es gab auch den Solokünstler Ulay. Geboren wurde er in einem Luftschutzkeller als Frank Uwe Laysiepen, am 30. November 1943 in Solingen. Nach einer Lehre als Maschinenbauer studierte er an der Werkkunstschule in Köln. Ende der Sechzigerjahre zog Laysiepen nach Amsterdam, nahm einen neuen Namen an und porträtierte, was man gern die Außenseiter der Gesellschaft nennt: Obdachlose, Junkies, Prostituierte, Verlorene.

Als Ulay machte er androgyne Selbstporträts und fotografierte Transsexuelle. In den Siebzigern wurde er Berater bei Polaroid und hatte Zugang zu Unmengen von fotografischem Material und technologisch neuartigen Verfahren. Wie erstaunlich das im Ergebnis oft war, das konnte man 2016 in der Schirn Kunsthalle sehen.

Sein Werk, in dessen Mittelpunkt der Körper stand, war nicht das eines zurückgezogenen, weltfremden Künstlers. Er griff in die Welt ein, und manchmal übertrat er dabei auch das Gesetz. Im Dezember 1976 entführte Ulay Carl Spitzwegs von vielen Deutschen (und auch von Adolf Hitler) geliebtes Gemälde „Der arme Poet“ aus der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Tatwerkzeug war eine Kneifzange, mit der die Drahtaufhängung durchtrennt wurde. Mit dem Auto brachte er das Bild nach Kreuzberg und hängte es bei einer zufällig auserkorenen türkischen Gastarbeiterfamilie in der Muskauer Straße an die Wohnzimmerwand. Anschließend rief er den Direktor des Museums an. Er könne jetzt vorbeikommen und sich das Bild ansehen.

Diese Aktion mit dem Titel „Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst“ wurde auf Video festgehalten und brachte ihrem Urheber eine Geldstrafe ein. Das Leben als Kunstwerk, mit allen Konsequenzen, dafür stand der Name Ulay. Selbst eine Trennung konnte Kunst sein. Er und Marina Abramovic gingen 1988 drei Monate lang von entgegengesetzten Enden der Chinesischen Mauer aufeinander zu, um sich nach einer letzten Begegnung für immer loszulassen. „The Lovers“ hieß die Arbeit, an die sich in gewisser Weise auch Marina Abramovics mehrmonatige Performance „The Artist is Present“ im Jahr 2010 anschloss.

Ulay wird einer der letzten von 1565 Besuchern im Museum of Modern Art. Die sonst so gefasste Marina Abramovic sieht ihn und bricht in Tränen aus. Über 17 Millionen Menschen haben sich das bis heute auf YouTube angesehen, einer der berührendsten Kunstmomente des Jahrzehnts. Fünf Jahre später kam es zum Streit über die Verwertungsrechte an gemeinsamen Arbeiten, Ulay warf der Serbin vor, ihn ausbooten zu wollen. Auf Anordnung eines niederländischen Gerichts musste Marina Abramovic ihrem Ex-Partner 300.000 Euro zahlen. 2017 kam es zur Versöhnung. Marina Abramovic war längst weltberühmt, Ulay wurde es nie, doch das schien ihm nie etwas auszumachen. Er arbeite viel, sagte er selbst in einem Interview, stelle aber wenig aus. Von 1999 bis 2004 war er Professor für Performance an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. 2012 überstand er eine schwere Krebserkrankung.

Mit seinem Körpereinsatz, seinem Genderbending, dem Eingeständnis seiner Verletzlichkeit und dem stetigen Verweis auf die sozialen Kontexte der Kunst war Ulay seiner Zeit voraus. Wie weit genau, wird man im Herbst erfahren, dann eröffnet das Stedelijk Museum in Amsterdam eine große Einzelausstellung. Der Künstler hat sie noch mitgeplant, kann sie aber nicht mehr erleben. Am frühen Montagmorgen ist Ulay im Alter von 76 Jahren gestorben. Seine wohl wichtigste Weggefährtin hat sich bereits von ihm verabschiedet. „Er war ein außergewöhnlicher Künstler und Mensch, der sehr vermisst werden wird“, schrieb Marina Abramovic auf Instagram. „An diesem Tag ist es tröstlich zu wissen, dass seine Kunst und seine Legende für immer weiterleben werden.“

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